Zum Hauptinhalt springen

Interviews, Videos & GastartikelVeröffentlicht am 1. September 2025

Was die Schweiz aus der Pandemie gelernt hat

NZZ – BAG-Direktorin Anne Lévy erläutert im Gespräch mit der NZZ, was der Bund mit der Revision des Epidemiengesetzes bezweckt, damit etwa genug medizinische Güter beschafft und neue Antibiotika entwickelt werden können.

Wenn Sie auf die Pandemie zurückschauen: Was war der grösste Fehler, den die Schweiz gemacht hat?

Wahrscheinlich unser Umgang mit den Älteren in der Bevölkerung. Sie sind es, die am verletzlichsten waren. In den Alters- und Pflegheimen gab es jene, die sich viel Schutz wünschten. Und jene, die die Türen offenhalten wollten, damit sie in der Zeit, die ihnen noch blieb im Leben, ihre Angehörigen sehen konnten. Da haben wir zu wenig auf die Betroffenen selbst gehört.

Sollen die Betroffenen künftig selbst entscheiden, ob sie Kontakt haben wollen oder nicht?

In der Analyse ist zumindest klar geworden: Es gibt nicht die eine Lösung für alle. Deswegen müssen die Betroffenen und ihre Angehörigen besser in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Gleichzeitig gilt es, die Vulnerabelsten zu schützen. Das ist nicht überall gut gelaufen. Es gab viele Todesfälle unter den älteren Menschen. In diesem Spannungsfeld gibt es Verbesserungspotenzial.

Was ist mit den Jungen? Selbst der damalige Impfchef Berger räumte vor einigen Monaten ein, dass man junge, selbst kaum gefährdete Leute zu stark unter Druck gesetzt habe, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Hat man es da mit den Massnahmen übertrieben?

Das ist schwierig zu beurteilen, die Situation war zu Beginn ja anders als ab dem Zeitpunkt, ab dem man wusste, dass Junge kaum schwere Verläufe hatten. Da hätte man womöglich rascher lockern können. Das Virus hat sich so schnell verändert in dieser Zeit. Es gab aber nie einen Zwang: Jede Person konnte selbst entscheiden, ob sie sich impfen lassen wollte oder nicht. Und die Schweiz hat die Schulen so rasch wieder geöffnet wie kein anderes Land.

Das stimmt. Aber es gab tiefe gesellschaftliche Zerwürfnisse. Auch weil die Behördenkommunikation forsch war. Wer nicht mitzog, fühlte sich ausgeschlossen. Würden Sie heute anders kommunizieren?

Wir haben immer mit allen gesprochen, mit der Bevölkerung, mit den Schulen, den Kulturschaffenden, den KMU, der Tourismusbranche.

Wieso konnte es dann passieren, dass es so merkwürdige Regeln gab wie auf der Skipiste, wo man nicht an einen Vierertisch auf der Terrasse essen durfte, dafür mit viel mehr Personen im Schnee sitzen konnte? Das hat die Leute doch verständlicherweise geärgert und verunsichert.

Ich verstehe das. Wir haben immer um Lösungen gerungen, die verhältnismässig sind und möglichst gut funktionierten. Und in der Aufarbeitung haben wir dafür gesorgt, dass wir in der Zukunft besser vorbereitet sind.

Wurde die Pandemie denn wirklich aufgearbeitet? Die Massnahmenkritiker bestreiten das.

Die zahlreichen Studien sprechen eine andere Sprache. Wir evaluieren alles, nicht nur eine Pandemie. Dazu gab es auch externe Berichte, etwa von der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats oder dem Schweizerischen Wissenschaftsrat. Und wir sind sehr transparent. Sogar die Protokolle der Taskforce-Sitzungen haben wir öffentlich gemacht. Man sieht, wie sehr wir um gewisse Dinge gerungen haben. Vergessen wir nicht: Das Virus war zu Beginn für alle neu. Es ging mit den Massnahmen darum, eine rasche Ausbreitung zu bremsen und eine Überlastung der Spitäler zu vermeiden – und sicherzustellen, dass schwer Kranke behandelt werden können.

Warum empfinden das viele anders?

Bund und Kantone haben sich in einem Spannungsfeld bewegt. Wir haben immer versucht, jede Massnahme nur so lange wie nötig beizubehalten. Auch wenn wir für die gewisse Öffnungsschritte Kritik einstecken mussten, etwa bei den Schulen. Viele Eltern haben uns Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Andere waren froh darum. Insgesamt haben wir in der Schweiz mit unserem Mittelweg die Pandemie gut bewältigt.

Dass Ungeimpfte, die sich nicht testen lassen wollten, zumindest teilweise vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden, hat jedoch tiefe Gräben in die Gesellschaft gerissen. War es das wert?

Es mag unschön gewesen sein, aber notwendig. So konnten strenge Massnahmen gelockert werden und die Menschen wieder ein Stück Normalität zurückgewinnen. Und das Zertifikat war zum Glück nur eine kurzfristige Angelegenheit.

Und doch gibt es einen Teil der Bevölkerung, der das Vertrauen in die Politik verloren hat und überzeugt ist, dass Covid-19 kaum gefährlicher war als ein Schnupfen. Was sagen Sie diesen Menschen?

Dass das Virus zu Beginn wirklich gefährlich war für viele Leute. Wir hatten 14'000 Todesfälle. Im Laufe der Zeit hat sich das Virus verändert. Und dank der Immunität vieler Menschen, die die Krankheit durchgemacht oder sich geimpft haben, gab es dann auch weniger schwere Verläufe.

Aber war das Virus gefährlich genug, um all die Eingriffe in die Freiheit der Bevölkerung zu rechtfertigen?

Wir haben Massnahmen getroffen, um die Überforderung der Gesundheitssysteme zu vermeiden. Ich habe immer noch die Bilder im Kopf aus Bergamo oder dem Central Park in New York, in dem Menschen in Zelten notdürftig behandelt wurden, wenn man überhaupt von Behandlung sprechen kann. Wir wollten nicht, dass hierzulande jemand mit einer Covid-Erkrankung, einem Herzinfarkt oder einem komplexen Beinbruch so versorgt werden musste, weil das Spital überlastet war. Und das haben wir geschafft. Deshalb: Ja, die Massnahmen waren gerechtfertigt. Die Stimmbevölkerung hat diese Politik ja auch in drei Abstimmungen gestützt. Das gab es weltweit sonst nirgends.

Umstritten war die Rolle der Wissenschaft: Man hatte den Eindruck, der Bund höre vor allem auf jene Experten, die möglichst scharfe Massnahmen forderten.

Das sehe ich anders. Gesundheitsminister Alain Berset und wir haben auch mit kritischen Köpfen geredet. Wir haben uns breit ausgetauscht, bevor ein Entscheid gefällt wurde. Der Bundesrat hat immer versucht, einen Mittelweg zu gehen. Natürlich ging es in erster Linie um medizinische Sicherheit, aber wir haben auch das Wohlbefinden der Leute oder die wirtschaftlichen Auswirkungen mitberücksichtigt.

Was hat man konkret aus der letzten Pandemie gelernt?

Im neuen Epidemiengesetz ist definiert: Will der Bundesrat eine besondere Lage ausrufen oder beenden, kann er das nur tun, wenn er zuvor die Kantone und die zuständige parlamentarische Kommission angehört hat. So ist ein Entscheid noch stärker demokratisch legitimiert. Und es sollte nicht mehr zu der Verwirrung kommen, die während der Covid-19-Krise zuweilen herrschte.

Das Parlament hat sich damals selbst aus dem Spiel genommen, indem es gar nicht mehr tagte.

Das soll künftig vermieden werden. Im Notfall gibt es mittlerweile die Möglichkeit, virtuelle Sitzungen abzuhalten. Beim Ausrufen einer besonderen Lage muss der Bundesrat zumindest die Gesundheitskommission aus beiden Räten anhören. Das ist im revidierten Gesetz genau definiert.

Gleichzeitig soll der Bund den Kantonen vorschreiben dürfen, was sie zu tun haben. So könnte der Bundesrat noch in einer normalen Lage eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr oder Maskenpflicht verordnen. Braucht es wirklich ein solches Diktat aus Bern?

Eine Maskenpflicht könnte nur bei besonderer Gefährdung der öffentlichen Gesundheit angeordnet werden. In einer Krise muss man rasch reagieren. Aber der Bund bestimmt das nicht allein, sondern in Abstimmung mit Kantonen und Parlament. Unser Land ist föderalistisch aufgebaut. Das hat viele Vorteile. Umgekehrt glaube ich nicht, dass sich jemand daran stört, wenn wir ein gesamtschweizerisches Abwasser-Monitoring haben, um die Verbreitung eines Erregers frühzeitig erfassen zu können.

Wieso braucht es in einer angeblich noch «normalen» Lage überhaupt so einschneidende Massnahmen?

Wenn man im öffentlichen Verkehr eine Maske tragen oder ein paar Tage von zuhause aus arbeiten muss, hilft dies, dass wir die exponentielle Verbreitung eines Erregers bremsen und damit auf härtere Massnahmen verzichten können. Bei der Gesetzesrevision liessen wir uns vom Ziel leiten, die Normalität möglichst lange aufrechtzuerhalten. Wegen ein paar Grippefällen gibt es auch in Zukunft sicher keine Maskenpflicht.

Die amtierende Gesundheistministerin Elisabeth Baume-Schneider hat gesagt, dass das BAG keine Infektionsmeldungen mehr per Fax entgegennehmen werde, wie das während der Pandemie noch der Fall war. Wie wollen Sie das durchsetzen?

Wir sind heute bei der Digitalisierung zum Glück an einem ganz anderen Ort als vor fünf Jahren. Die Corona-Meldungen aus den Labors kommen nur noch digital. Und dank unserem Dashboard sieht man rascher, wie sich die Lage entwickelt. Ich bin kürzlich an unserem Faxgerät vorbeigekommen, es hat schon etwas Staub angesetzt. Aber es gibt immer noch ein paar Ärzte, die Krankheitsfälle so melden.

Wann können Sie dem Faxgerät definitiv den Stecker ziehen?

Sobald das revidierte Gesetz in Kraft tritt, also voraussichtlich im Jahr 2028. Dann nehmen wir keine Meldungen per Fax mehr entgegen.

In der letzten Pandemie mangelte es essenziellen Gütern wie Hygienemasken und Handdesinfektionsmitteln. Wie stellt der Bund sicher, dass das künftig anders sein wird?

Das war und ist Aufgabe der Kantone. Gemäss Verfassung sind sie für die Gewährleistung der Gesundheitsversorgung zuständig.

Dann besteht die Gefahr, dass wir dasselbe Debakel erleben.

Mit dem eben aktualisierten Pandemieplan wird die Vorbereitung gestärkt. Er enthält dazu handfeste Empfehlungen. Und neu wird die gesetzliche Grundlage geschaffen, damit der Bund subsidiär medizinische Güter beschaffen kann, wenn Kantone oder Private dazu nicht in der Lage sind.

Beim Personal in den Intensivpflegestationen gab es grosse Engpässe. Ist eine Ausbildungsoffensive erfolgt?

Das BAG ist bemüht, die Zahl der Ärztinnen und Ärzte zu erhöhen, beim Pflegepersonal gibt es dank der Umsetzung der Pflegeinitiative verschiedenste Bemühungen. Aber die Gesundheitsversorgung ist grundsätzlich Sache der Kantone. Das ist absolut richtig, weil sie näher am Geschehen sind und ihre Spitäler bestens kennen.

Künftig soll der Bund Pharmafirmen mit der Herstellung von Medikamenten oder Impfstoffen beauftragen können. Wieso ist das nötig?

Das ist ein Notnagel. Es geht dabei nicht um komplexe Impfstoffe, sondern um Arzneimittel, die einfach herzustellen und die in einer Krise essenziell wären, für die aber in der Privatwirtschaft gerade keine Kapazitäten bestehen.

Wenn in einer Pandemie die Nachfrage nach einem Medikament sprunghaft ansteigt, hat doch die Privatwirtschaft ein kommerzielles Interesse daran, die Produktion hochzufahren. Es braucht da den Staat nicht.

Es wollen nicht alle Firmen ihre Produktion umstellen, weil sie andere Medikamente herstellen, die sich auch gut verkaufen. Da kann ein finanzieller Anreiz durch den Bund helfen. Eine Möglichkeit ist auch die Produktion durch die Armeeapotheke. Aber sie hat nur beschränkte Kapazitäten.

Covid-19 hat gezeigt, dass man im Fall einer Pandemie nicht darauf vertrauen kann, Medikamente oder die Rohstoffe dafür auf dem Weltmarkt zu erhalten. Wäre eine Lehre daraus, dass man essenzielle Arzneimittel wieder hier herstellt, statt sie aus Asien zu importieren?

Das ist ein extrem komplexes Thema. Der Bundesrat prüft verschiedene Modelle. Es ist noch zu früh, um zu sagen, in welche Richtung es geht. Klar ist: Wir wollen die Versorgungsicherheit stärken.

Vorgesehen sind im Epidemiengesetz auch neue Massnahmen gegen Antibiotikaresistenzen…

… ja, der Bund soll Firmen mit Vergütungs-Modellen einen Anreiz geben können, neue wirksame Antibiotika zu entwickeln und in der Schweiz auf den Markt zu bringen. Antibiotikaresistenzen besser zu bekämpfen und gute Medikamente zu haben, ist dringend nötig.

Warum?

Es gibt immer mehr Antibiotika, die nicht mehr wirken, weil sich in der Bevölkerung resistente Keime dagegen entwickelt haben. Zwar haben wir es geschafft, in der Humanmedizin den Einsatz von Antibiotika mit hohem Potential zur Resistenzbildung seit 2014 um 26 Prozent zu reduzieren. Doch das reicht noch nicht. Wichtig ist, Antibiotika sachgerecht einzusetzen, wie verschrieben.

Und wie erreicht man das?

Es braucht eine hohe Sensibilität für das Thema – bei den Fachleuten und in der breiten Bevölkerung. Dazu gibt es beispielsweise Flyer, die Ärzte und Apotheken den Patienten mit dem Antibiotikum mitgeben. Und wir setzen auf die Einzelabgabe der Medikamente. So dass eine Patientin, die vier Tage lang je zwei Pillen nehmen muss, keine Zehnerpackung erhält, sondern genau acht Pillen. Sonst besteht das Risiko, dass sie die übrigen Tabletten später doch noch nimmt. Oder dass sie sie in den normalen Abfall wirft. Und die Wirkstoffe dann über die Kehrichtverbrennungsanlagen in die Umwelt gelangen und neue Resistenzen hervorrufen.

Zum Interview in der NZZ

Bundesamt für Gesundheit BAG

Geschäftsleitung
Schwarzenburgstrasse 157
Schweiz - 3003 Bern