Digitalisierung: «Wie die BAG Chefin jetzt vorwärts machen will.»

NZZ, 11.4.2023 – Seit Corona steht das Bundesamt für Gesundheit in der Kritik. Doch nun soll alles besser werden, wie die Chefin Anne Lévy verspricht. Auf die nächste Pandemie werde man vorbereitet sein (en allemand).

Interview mit Anne Lévy 

Simon Hehli, Erich Aschwanden

Das Faxgerät wurde zum Running Gag der Pandemie. Ärzte mussten Meldungen zu Corona-Erkrankungen von Hand ausfüllen und per Fax nach Bern schicken. Auch verlässliche Zahlen zu positiven Tests oder verimpften Vakzinen waren lange nicht in Echtzeit erhältlich. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) wurde zum Gespött der Nation: Der gravierende Rückstand in Sachen Digitalisierung, der Kenner des Gesundheitswesens schon lange beunruhigt hatte, war nun für die ganze Bevölkerung offensichtlich.

Gesundheitsminister Alain Berset muss die Probleme angehen – und setzt auf Anne Lévy. Die Politikwissenschafterin, die zuvor CEO der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel gewesen war, übernahm mitten im heissen Pandemieherbst 2020 die Leitung des BAG.

Ihr Bundesamt hat die Digitalisierung völlig verschlafen. Frau Lévy, sind Sie jetzt aufgewacht?

Die Schweiz verfügt über ein qualitativ sehr gutes Gesundheitssystem, in Sachen Digitalisierung spielen wir aber international nicht vorne mit, das stimmt. Unsere Nachbarländer übrigens auch nicht. Doch in den letzten beiden Jahren haben wir viel gemacht. Beim elektronischen Patientendossier (EPD) geht es voran, zudem entwickeln wir zusammen mit dem Bundesamt für Statistik Digisanté, eine Strategie für die digitale Transformation des Gesundheitswesens.

Bleiben wir noch bei der Ursachenforschung: Wie erklären Sie sich den massiven Rückstand auf Länder wie Dänemark, das seit zwanzig Jahren ein EPD hat?

Die Schweiz ist bei der Digitalisierung insgesamt im Hintertreffen. So haben wir immer noch keinen elektronischen Identitätsausweis (E-ID). Zudem ist das Gesundheitssystem international nicht so stark digitalisiert wie andere Bereiche, zum Beispiel das Finanzwesen.

Bürgerliche Gesundheitspolitiker kritisieren allerdings auch Ihren Chef, Alain Berset: Der Gesundheitsminister habe sich jahrelang um die Digitalisierung foutiert, weil ihn das Thema nicht interessiere.

Das nehme ich ganz anders wahr. Schon bei meinem ersten Treffen mit Bundesrat Berset war die Digitalisierung ein zentrales Thema. Er wollte explizit jemanden an der BAG-Spitze, der in diesem Bereich vorwärtsmacht. Die Unterstützung von ihm spüre ich weiterhin. Nun hoffe ich, dass wir sie für unsere Digitalisierungsoffensive auch vom Parlament erhalten.

Ist der Föderalismus, der vielbeklagte Kantönligeist, ein Bremsklotz?

Der Bund hat im Gesundheitswesen nicht so viele Kompetenzen, wie das Gesundheitsministerien in anderen Ländern haben, weil bei uns die Kantone für die Gesundheitsversorgung zuständig sind. In Dänemark sind dafür fünf Regionen gebildet worden, und die Bevölkerung ist bei der staatlichen Krankenkasse versichert, womit vieles zentraler läuft. Bei uns ist es komplizierter. Darum ist es wichtig, dass alle Akteure, also Bund, Kantone, Forschung, Spitäler, Ärzteschaft und Apotheken, bei der Digitalisierung gemeinsam vorwärtsmachen. Es braucht alle.

In der Ärzteschaft gab es aber auch Opposition gegen die Digitalisierung – gerade in der älteren Generation, die Patientenakten auf Papier gewohnt ist.

Wir wollen ja auch nicht, dass man nachträglich ganze Akten digitalisiert. Es geht um die Zukunft. Kein Spital, keine Ärztin, kein Apotheker kommt darum herum, künftig digital zu arbeiten. Die meisten machen das bereits. Dass es früher auch ohne gegangen sei, das sagen nur noch wenige.

Stehen im BAG eigentlich noch immer die Faxgeräte herum?

Vereinzelt, ja. Dies, weil wir gesetzlich verpflichtet sind, die Meldungen in jeder Form anzunehmen. Es ist jedoch klar: das geht eigentlich nicht mehr. Wir möchten sämtliche Meldeprozesse digital standardisieren und nach dem «once only»-Prinzip organisieren – also dafür sorgen, dass die Daten mit einer Meldung für alle Zwecke abgedeckt sind.

Passiert das noch nicht?

Doch. Die Labors haben die Corona-Fälle von Anfang an ausschliesslich digital erfasst und sie an das BAG gemeldet, wir haben sie dann automatisiert auf unser Dashboard überspielt, so dass alle auf die anonymisierten Daten zugreifen konnten. In den Spitzenzeiten der Pandemie waren es über 100 000 elektronische Krankheitsmeldungen pro Tag. Vor der Pandemie waren es 60 000 – im ganzen Jahr.

Noch im letzten Sommer sorgten Berichte für Stirnrunzeln, wonach Ärzte Affenpockenfälle per Faxformular dem BAG melden mussten.

Wie gesagt, wir möchten das alles lieber digital erhalten. Was wir für Covid-19 geschafft haben, wollen wir darum bis 2025 auch für die anderen gut fünfzig meldepflichtigen Infektionskrankheiten erreichen. Wir bauen dazu ein elektronisches Meldeportal für Spitäler, Arztpraxen und Labore auf und wollen die Daten ebenso verständlich und interaktiv präsentieren wie beim schon bekannten Corona-Dashboard. Für Influenza wird das im Lauf des Jahres funktionieren, anschliessend kommen weitere Krankheiten wie Zeckeninfektionen dazu.

Ein Schlüsselelement der Digitalisierung ist das elektronische Patientendossier, Sie haben es bereits erwähnt. Haben Sie selbst ein EPD?

Ja.

Und nutzen Sie es?

Weil ich zum Glück gesund bin, brauche ich es im Alltag nicht häufig. Doch ich habe meine Impfungen darauf abgespeichert und weiss daher, dass ich bald meine Zeckenimpfung auffrischen muss. Am sinnvollsten ist das EPD aber zum Beispiel für Patientinnen und Patienten, die chronisch krank sind. Für ältere Leute wie meine Mutter. So würde ihre Grippeimpfung automatisch immer erfasst, und sie müsste nicht überlegen, wie lange die letzte Impfung zurückliegt. Wenn meine Mutter auf einer Reise einmal ihre Medikamente vergisst, können wir im EDP nachschauen, um welche es sich handelt, und die Arzneimittel in einer Apotheke kaufen.

Wirklich viel bringt das EPD vorerst aber nicht, es ist bis jetzt vor allem eine Ablage für PDF-Dokumente. Wie lange müssen wir noch warten, bis das Patientendossier wirklich funktioniert – bis es also beispielsweise eine übersichtliche Medikamentenliste enthält?

Zugegeben, es handelt sich beim EPD um eine Version 1.0, die somit noch am Anfang steht. Aber auch das erste iPhone hatte nicht alle Funktionen, die uns heute geläufig sind. Rasch sind dann weitere praktische Möglichkeiten dazugekommen. In zwei bis drei Jahren wird das EPD benutzerfreundlicher sein und viel mehr können als die heutige Version. Die elektronische Medikation kommt noch in diesem Jahr.

Und die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer – derzeit nur einige zehntausend – soll plötzlich stark steigen?

Als die ersten Handys aufkamen, war es manchen auch lieber, zu Hause zu telefonieren und nicht ständig erreichbar zu sein. Heute besitzen fast alle ein Smartphone. Je mehr das EDP kann, umso mehr wird es genutzt, davon bin ich überzeugt. Von den Gesundheitsfachpersonen, weil es sie von Büroarbeit entlastet und ihnen so mehr Zeit für die Patienten bleibt. Und von den Patienten, weil sie so einen Überblick über ihre Gesundheitsdaten haben und vermeiden können, die gleiche Untersuchung mehrfach machen zu müssen. In zehn Jahren wird es sich die grosse Mehrheit gar nicht mehr anders vorstellen können.

Ist das nicht etwas gar optimistisch? Den Schweizern ist der Datenschutz sehr wichtig – und Gesundheitsdaten sind besonders heikel.

Dazu müssen wir besonders Sorge tragen, das ist klar. Deshalb steht bei uns der Datenschutz an oberster Stelle. Doch eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nirgends. Auch bei einem Arzt, einer Apotheke oder in einem Labor können Patientendaten gestohlen werden.

Glauben Sie, dass die Bevölkerung einer staatlichen Behörde ihre Gesundheitsdaten lieber anvertraut als einem Unternehmen wie Google?

Ja. Das sah man bei der Abstimmung zur E-ID: Viele Bürgerinnen und Bürger sagten Nein zu einer privatwirtschaftlichen Lösung, sie wollten lieber auf eine vom Staat herausgegebene E-ID warten. Die Menschen in der Schweiz vertrauen darauf, dass der Staat korrekt mit ihren Daten umgeht.

Dennoch dürfte das EPD kein Selbstläufer werden. Braucht es dafür keine Werbung?

Doch. Wir planen eine Kampagne, mit der wir zunächst die Fachpersonen im Gesundheitsweisen motivieren wollen, das EPD zu benutzen. Und später dann die breite Bevölkerung. Das wäre auch für die Forschung wertvoll.

Inwiefern?

Im EPD lassen sich auch Gesundheitsdaten ablegen, die die Leute bereits selbst erheben. Etwa über Apps, die Schritte zählen, die Schlafqualität erfassen oder Blutdruckwerte notieren. Das ist nicht nur für die eigene Gesundheit nützlich – ich schaue oft auf meinen Schrittzähler und will mich täglich selbst übertreffen. Man kann, wenn man will, auch solche Daten anonymisiert der Forschung zur Verfügung stellen. Dann würden davon nicht mehr nur Google, Apple und Co. profitieren, sondern die Allgemeinheit.

Was kann die Forschung mit solchen Daten anfangen?

Man könnte beispielsweise schauen, was die Risikofaktoren für Krebserkrankungen sind und in welchen Bevölkerungsgruppen diese besonders ausgeprägt sind. Das würde es uns als Gesundheitsbehörde, aber auch der Ärzteschaft ermöglichen, zielgerichtete Präventionsprogramme zu lancieren. Auf individueller Ebene kann das Smartphone ein Warninstrument sein: Wenn sich jemand kaum mehr bewegt und keine Nachrichten mehr verschickt oder nicht mehr telefoniert, dann könnten dies Indizien für eine Depression sein, die sich anbahnt.

Ein grosses Problem, sowohl für die Forschung wie auch für die Spitäler, Ärzte oder Apotheker, ist die Unmenge an Datenformaten.

Länder wie Estland haben frühzeitig Standards definiert und profitieren nun stark davon. Die Esten konnten nach Erlangung der Unabhängigkeit die ganzen Systeme auf der grünen Wiese neu schaffen. Das ist bei uns anders: Es gibt in der Schweiz grosse Spitäler, in denen das System der Klinik A nicht mit jenem der Klinik B kommunizieren kann. Mit unserem Programm Digisanté wollen wir gemeinsam mit den Kantonen und Gesundheitsfachleuten nun dafür sorgen, dass einheitliche Standards erarbeitet werden. Damit die Daten zwischen allen Akteuren einfach ausgetauscht werden können und zum Nutzen der Patienten rasch genug zur Verfügung stehen.

Wie läuft das konkret?

Die Fachleute der unterschiedlichen Bereiche des Gesundheitswesens einigen sich mit unserer Unterstützung auf Standards. Ein Beispiel ist das neue elektronische Rezept, das die Apotheken und die Ärzteschaft derzeit gemeinsam erarbeiten und das dann Teil des Patientendossiers werden soll. Wir vom BAG entscheiden dann gemeinsam mit den Fachleuten über die besten Lösungen für den Standard, diese moderierende Rolle des Staates braucht es. Eine einheitliche Codierung zu erreichen, ist allerdings nicht so einfach, wie es scheinen mag.

Wieso nicht?

Ein simples Beispiel: Für das Attribut «weiblich» gibt es derzeit in der Schweiz die verschiedensten Codes – «2», «w» oder «f». Da, und in noch viel komplizierteren Fragen wie Krankheitsdiagnosen, muss man sich auf eine gemeinsame «Sprache» einigen. Auch eine Zeckenimpfung soll immer «Zeckenimpfung» heissen und so ins digitale Impfbüchlein kommen, egal, wer die Impfung gemacht hat und welcher Impfstoff dabei verwendet wurde.

Die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) hat das BAG kürzlich wegen der Beschaffung der Covid-Impf-Applikation scharf gerügt: Man habe überrissene Preise bezahlt. Zudem gibt es den Verdacht der Vetternwirtschaft, weil der temporäre Projektverantwortliche beim BAG und der Chef eines der Unternehmen, die den Auftrag bekamen, alte Weggefährten sind. Was lief da schief?

Man muss die Umstände berücksichtigen. Ende 2020 wurde klar, dass die Schweiz die Impfstoffe früher erhalten würde, als zunächst absehbar gewesen war. Die Kantone signalisierten, dass sie nicht in der Lage waren, ein Tool zur Verfügung zu stellen, über das sich die Leute für die Impfung anmelden konnten. Also mussten wir uns ans Werk machen, es blieb nur wenig Zeit. Dass wir das geschafft haben, macht mich immer noch stolz. Wir mussten unkonventionell vorgehen, sonst hätte sich die Impfkampagne um drei Monate verzögert – und es wären noch mehr Menschen an Covid-19 gestorben.

Rechtfertigt das ein fragwürdiges Auswahlverfahren?

Wir waren in der ausserordentlichen Lage befugt, so vorzugehen, wie wir es gemacht haben. Man stelle sich vor, was los gewesen wäre, wenn die ganze Welt schon am Impfen gewesen wäre, aber wir hätten sagen müssen: Entschuldigung, es dauert noch, weil eine wettbewerbliche Ausschreibung läuft… So aber ist es gelungen, eines der ersten Länder zu sein, das impft. In solch einer Situation zählte jede Woche.

Waren Ihnen die persönlichen Verstrickungen des Projektverantwortlichen bewusst?

Ja, wobei er seinen Posten erst antrat, nachdem wir den Auftragnehmer für die Applikation bereits ausgewählt hatten. Es gibt nicht so viele Medizininformatiker, natürlich kennen sich die alle. Das ist wie bei Ihnen im Journalismus oder bei mir im Gesundheitswesen. Die Schweiz ist klein.

Dann empfinden Sie die Kritik als kleinkrämerisch?

Es ist richtig, dass man jetzt genau hinschaut. In einer Pandemie, in der man mit zehnfacher Geschwindigkeit agieren muss, kann man unmöglich alles perfekt machen. Wir waren aber immer selbstkritisch und haben uns gefragt, was wir verbessern müssen. Wir prüfen jetzt natürlich auch, welche Lehren wir daraus ziehen müssen.

Werden wir also besser gewappnet sein, falls in fünf Jahren eine Pandemie kommt?

Ja, auch wenn ich hoffe, dass das nicht passieren wird. Die Basis ist gelegt, damit wir schneller einen Überblick hätten, wie viele Leute erkrankt sind oder wie viele bereits eine Impfung bekommen haben. Auch die Verteilung der Impfstoffe an die Kantone wird in Zukunft einfacher sein.

Dernière modification 12.03.2024

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