Die Kontamination von Lebensmitteln in der Schweiz nach dem Unfall von Tschernobyl, 1986

Ankunft der "radioaktiven Wolke" in der Schweiz

Das Luftüberwachungsgerät auf dem Weissfluhjoch registriert am Morgen des 30.04.86 als erstes einen Anstieg der Radioaktivität in der Luft in der Schweiz. Im Laufe des Tages werden auch in der Westschweiz ein Anstieg festgestellt. Danach sind in der Schweiz gemessenen Werte künstlicher Radioaktivität etwa eine Woche hoch, da das havarierte Kraftwerk in Tschernobyl etwa zehn Tage lang radioaktive Stoffe in die Luft freigesetzt hatte.

In den ersten Tagen befinden sich zahlreiche Radionuklide in der Luft, die meisten verschwinden jedoch schnell. Jod mit einer Halbwertszeit von 8 Tagen wird beim Durchzug der radioaktiven Wolke hauptsächlich durch trockene Deposition auf der Vegetation abgelagert. Trotz der kurzen Halbwertszeit ist seine Inhalation oder Aufnahme über die Nahrung angesichts der schädlichen Auswirkungen dieses Radionuklids auf die Schilddrüse (Jodtabletten)  besonders problematisch. Cäsium-134 und 137 hingegen werden mehrheitlich durch Niederschläge auf den Schweizer Böden abgelagert; da ihre Halbwertszeit 2 bzw. 30 Jahre beträgt, führt dies zu einer dauerhaften Kontamination des Landes.

Seit der Ankunft der Wolke am 30.04.1986 führen Niederschläge zu einer Ablagerung von Radioaktivität, hauptsächlich Cäsiumisotope, auf dem Boden. In dieser ersten Phase insbesondere in der Ostschweiz. Ab dem 03.05.86 führen Niederschläge auch im Tessin, in den Bündner Südtälern und in geringerem Ausmass im Waadtländer Jura zu einer stärkeren Ablagerung. Ab dem 10.05.86 bringen die Niederschläge kaum mehr weitere Ablagerungen von Radioaktivität mit sich.

Die verschiedenen Regionen des Landes wurden je nach Niederschlagsmenge also in sehr unterschiedlichem Ausmass kontaminiert. Am stärksten betroffen waren das Tessin, Südbünden, Teile der Ostschweiz und in geringerem Masse auch der Waadtländer Jura (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1: Ablagerung von Cäsium-137 auf Schweizer Boden nach dem Unfall von Tschernobyl. Angaben in kBq pro m2 (Stand: Mai 1986)

Aufgrund der Jahreszeit, in der sich der Unfall ereignet, sind im Mai 1986 Gras und Blattgemüse, insbesondere Salate, Spinat und Lauch, am stärksten betroffen. Auch Nutztiere, die das verunreinigte Gras von den Weiden fressen, sind selber kontaminiert. Diese Kontamination geht auch auf Milchprodukte und Fleisch über.

Gras und Futterpflanzen

Gras wird durch den radioaktiven Niederschlag direkt verunreinigt und ist der Ausgangspunkt für die Kontamination der Erzeugnisse aus der Viehwirtschaft (Milch, Milchprodukte, Fleisch), die für den Menschen ein wichtiges Glied in der Nahrungskette ist. Gras ist daher eines der ersten Produkte, das untersucht wird. Insgesamt sind es zwischen dem 1. und 15. Mai 300 Grasproben.

Da die radioaktiven Niederschläge Anfang Mai von Region zu Region sehr unterschiedlich sind, weisen auch das Gras und die Vegetation im Allgemeinen sehr unterschiedliche Radioaktivitätswerte auf.

Auf der Grundlage der Messungen in der ersten Maihälfte konnten die folgenden Durchschnittswerte berechnet werden:

Tab. 1: Durchschnittliche Radioaktivität (Bq/kg) in frischem Gras in der ersten Maihälfte
  131I 137Cs 131I / 137Cs
Tessin 2'000 2'000 ~ 1
Ostschweiz 3'000 1'200 ~ 2.5
Zentralschweiz 3'000 1'000 ~ 3
Westschweiz 1'300 300 ~ 4

Während bei Cäsium der Regen den grössten Teil der Aktivität deponiert, spielt bei Jod die trockene Deposition eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund sind die regionalen Unterschiede bei Jod weniger ausgeprägt als bei Cäsium-137, wie aus Tabelle 1 ersichtlich ist. Die Jodwerte waren 1986 in der Ostschweiz höher als im Tessin.

Um die Menge der von einer Person aufgenommenen Radioaktivität und damit die Strahlendosis, die sie dadurch erhält, berechnen zu können, wird die in allen Gliedern der Nahrungskette (vom Gras bis zur Milch oder zum Fleisch) gemessene Aktivität üblicherweise auf das Gewicht bezogen (Bq/kg).

Das Standardverfahren zur Entnahme einer Grasprobe sieht jedoch einen Schnitt auf einer Fläche von 1 m2 (ohne Angabe der Grashöhe) vor, eine Fläche, die leicht vor Ort gemessen werden kann. Das Messergebnis zeigt dann die Menge an Radioaktivität, die pro Flächeneinheit abgelagert ist. Die Umrechnung in Bq/kg hängt zusätzlich von der Masse des geschnittenen Grases ab. Ist nur wenig Gras gewachsen, so ist dieses pro Kilogramm stärker verunreinigt. Aus diesem Grund weisen die Messergebnisse der spezifischen Aktivität in Bq/kg sehr grosse Unterschiede zwischen Einzel- und Durchschnittswerten auf (bis zu einem Faktor 30).

Die Kontamination von Gras und Pflanzen erreicht unmittelbar nach der Deposition ein Maximum, um dann in den folgenden Wochen aufgrund des anhaltenden Pflanzenwachstums (Gewichtszunahme des Grases), des teilweisen Abwaschens der Radioaktivität durch Regen und des Verschwindens von radioaktiven Elementen mit kurzer Halbwertszeit (Jod-131) stark abzunehmen.

Milch

Von Anfang an wird nach dem Unfall der Überwachung von Milch, ein stark konsumiertes Grundnahrungsmittel, grosse Bedeutung beigemessen; ausserdem gelangt ein beträchtlicher Teil des Jods aus dem Gras in die Milch. So ist die Milch im ersten Monat das am meisten untersuchte Nahrungsmittel. Bereits am 1. Mai 1986 beginnen die Radioaktivitätsmessungen.

Die Milchradioaktivität weist die gleiche geografische Verteilung auf wie das Gras mit ebenfalls stark streuenden Werten (siehe Abbildung 2). Um die Streuung der Werte zu verringern und die Entwicklung der Radionuklidaktivität in der Milch spezifischer zu untersuchen, wird ein Monitoring mit Milchproben von ein und demselben Bauernhof durchgeführt (siehe Abbildung 3).

Die I-131-Aktivität in der Milch erreicht bereits nach 2-4 Tagen ihren Höchstwert; danach nimmt sie mit einer effektiven Halbwertszeit von 4-5 Tagen ab. Bei Cs-137 steigt die Aktivität in der Milch langsamer an, erreicht nach ca. 10 Tagen einen Höchstwert und nimmt dann mit einer effektiven Halbwertszeit von 10-15 Tagen ab. Diese Ergebnisse spiegeln die Entwicklung der Grasradioaktivität wider. Während die Cäsium-Aktivität hauptsächlich aufgrund des Graswachstums abnimmt, wird der Rückgang der Jod-131-Aktivität durch den radioaktiven Zerfall dieses Nuklids (Periode: 8 Tage) weiter beschleunigt.

Anfang Mai 1986 liegen die Mittelwerte in der Westschweiz bei 100-200 Bq/l für Iod-131 und 20-50 Bq/l für Cs-137, während im Tessin und in der Ostschweiz die Mittelwerte für beide Radionuklide zwischen 200 und 1000 Bq/l liegen. Die gemessenen Aktivitäten von Proben aus Milchmischungen von Grossmolkereien sind geringer als die jener Proben, die direkt vom Bauernhof stammen.

Für die Winterfütterungsperiode ist aufgrund der Kontamination des Heus ein weiterer Anstieg der Cs-Aktivität in Milch und Fleisch zu erwarten. Dieser Anstieg ist in der Abbildung 2 (und 3, obwohl diese Gegend weniger betroffen war) deutlich zu erkennen; er ist jedoch im Durchschnitt 2-3-mal niedriger als im Mai 1986.

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Abbildung 2: Cäsium-137-Aktivität in der Kuhmilch aus dem Kanton Tessin

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Abbildung 3 : Aktivitäten von Jod-131 und Summe der Aktivität von Cäsium-134 + Cäsium-137 in Milch von Oberbözberg

Fleisch, Wild

Die Aufnahme von Cäsium erfolgt bei Mensch und Tier über die Nahrung bzw. das Futter. Im Körper verhält sich Cäsium ähnlich wie Kalium, d. h. es wird vor allem in das Muskelgewebe eingebaut. Bei erwachsenen Menschen wird es mit einer biologischen Halbwertszeit von 100 Tagen ausgeschieden. Die biologische Halbwertszeit ist die Zeit, die benötigt wird, um die Hälfte der Aktivität auszuscheiden. Bei Kindern ist die Abnahme schneller. Bei Rindern wurde eine biologische Halbwertszeit von 80 Tagen ermittelt. Iod-131 wird vor allem in der Schilddrüse gebunden und stellt daher kein radiologisches Problem beim Konsum von Fleisch dar.

Aufgrund dieser langen biologischen Halbwertszeit nimmt die Cäsium-137-Aktivität im Tessiner Rindfleisch von Mai bis Herbst 1986 nur wenig ab, wie in Abbildung 4 dargestellt.

Im Herbst und Winter werden die Rinder wieder mit kontaminiertem Heu gefüttert, was den erneuten Anstieg der Cäsium-137-Aktivität im Fleisch erklärt; diese bleibt bis zum Frühling 1987 hoch. Die durchschnittliche Cäsium-137-Aktivität in Rindfleisch im Mai 1986 im Tessin beträgt 550 Bq/kg betrug, wobei Werte bis zu 2500 Bq/kg erreicht werden können. Wäre damals der Höchstgehalt für Cäsium-137 von 1250 Bq/kg der in der aktuellen Kontaminantenverordnung festgehalten ist, gültig gewesen, so wie es heute bei einem Atomunfall der Fall wäre, wären einige Überschreitungen zu verzeichnen gewesen. Wie Abbildung 3 zeigt, hätten sich diese Überschreitungen jedoch in der Regel in Grenzen gehalten.

Die im Mai 86 in Wild- oder Schaffleisch gemessene Cäsium-137-Aktivität ist zwei- bis dreimal höher als die in Rindfleisch. Im Laufe des Sommers 1986 kann jedoch ein starker Rückgang der Radioaktivität in Wild, Schafen, Ziegen, Kaninchen usw. festgestellt werden, so dass restriktive Massnahmen wie ein Jagdverbot oder eine Verschiebung der Schafmärkte im Tessin auf den Herbst nicht nötig sind.

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Abbildung 4: Cäsium-137-Aktivität in Kuhfleisch aus dem Kanton Tessin

Gemüse, Früchte und andere Lebensmittel

Bei der ersten Ernte (Mai 1986) ist vor allem grünes Blattgemüse (Spinat, Salat, etc.) stark belastet. Wie beim Gras werden die höchsten Werte in der Ostschweiz und im Tessin gemessen, die niedrigsten Werte in der Westschweiz. Die Aktivitäten sind in gedeckten Kulturen (Gewächshäusern) niedriger als im Freiland. Bei der zweiten Ernte (Juni) sind die Cäsium- und Jodaktivitäten bereits um einen Faktor von mehr als 10 gesunken. Bei ganz frisch kontaminiertem Gemüse kann durch das Waschen ein Teil der Radioaktivität entfernt werden.

Die Cäsium-Aktivität anderer Gemüse, insbesondere von Wurzelgemüse, sind oft sehr niedrig (unter 10 Bq/kg); in der ersten Phase nach dem Unfall erfolgt die Kontamination nämlich zunächst durch direkte Ablagerung aus der Luft, während die Aufnahme durch die Wurzeln praktisch unbedeutend ist (und auch später nicht zu grossen Kontaminationen führen wird).

In den am stärksten betroffenen Gebieten trägt die dauerhafte Speicherung von Cäsium-137, das in bestimmten Bodenbestandteilen (z.B. Ton) gebunden ist, dazu bei, die Kontamination von Pflanzen und der übrigen Nahrungskette aufrechtzuerhalten. In der Schweiz ist dieser Beitrag sehr gering, da der Ackerboden regelmässig gepflügt wird, was die Kontamination der oberen Bodenschichten rasch reduziert.

Wie gelangt die Radioaktivität nach einem Unfall in die Lebensmittel?

Letzte Änderung 21.04.2023

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